@PSP – Ausgabe 2, April 2021
Performance Gap-Analyse: unbequeme Wahrheiten

Der im Jahr 2018 fertiggestellte Neubau «Grosspeter Tower» hat für sein nachhaltiges Design verschiedene Preise erhalten. Die Arbeit ist jedoch mit dem Erstellen eines nachhaltigen Gebäudes nicht getan.

Mithilfe eines digitalen Zwillings wurde in den letzten eineinhalb Jahren eine modellbasierte Performance Gap-Analyse durchgeführt, um basierend darauf gezielte Optimierungsmassnahmen umzusetzen.


Über die Herausforderungen und die Erkenntnisse aus der Praxis hat sich Florence Leemann mit Marcel Scheuber unterhalten. Er leitet das Kompetenzzentrum Energie- & Gebäudetechnik.


Textredaktion: Agathe Bolli

 „Digitaler Zwilling“ und „BIM“ sind Schlagwörter, um die man in der Immobilienszene fast nicht mehr rumkommt. Als Digital Innovation Officer interessiert es mich immer zu erfahren, wie sich all diese Errungenschaften der Digitalisierung in der Praxis bewähren. Könntest du uns kurz erklären, wie diese zur Performance Gap-Analyse eingesetzt wurden?

Es ist eine Tatsache, dass viele Neubauten die angestrebten Vorgaben bezüglich Energieverbrauch und Behaglichkeit nicht erreichen. Es gibt also in der Regel einen sogenannten „Performance Gap“ zwischen IST und SOLL. Die Ursachen können technischer Art sein oder bei vereinfachten standardisierten Berechnungsgrundlagen liegen, aber auch von der Simulation abweichendes Wetter bzw. Klima haben einen Einfluss, und natürlich das Nutzerverhalten.

Gerade bei einem Vorzeigebau in Sachen Nachhaltigkeit wie dem Grosspeter Tower ist es wichtig, diesen Gap frühzeitig zu erkennen und anzugehen. Bereits in der Bauprojektphase hat der Fachingenieur ein Gebäudemodell zur Ermittlung der künftigen Energieverbräuche entwickelt. Gemeinsam mit unseren Partnern haben wir dann einen „Digital Twin – As Built“ erstellt.

Zu Beginn arbeitet man für die Simulation des Energiebedarfs mit Normwetterdatensätzen, nach Inbetriebnahme des Gebäudes werden Echtzeit-Wetterdaten verwendet. Damit wird dann der IST-Zustand verglichen. So können wir den Performance Gap auf hohem Level analysieren, und dank der Visualisierung erfolgt dies auf sehr intuitive und flexible Weise.
 

Und, was hat denn diese Analyse ergeben?

Die Analyse zeigt schonungslos auf, was nicht gut ist. Diese Wahrheit ist nicht immer angenehm. So haben wir zum Beispiel mit Hilfe des Monitorings erkannt, dass der geforderte Wirkungsgrad der Wärmerückgewinnung bei den Lüftungsanlagen nicht erreicht wurde. Der effektive Verbrauch für Heizung und Kühlung lag deshalb etwa 4.5 Mal höher als im Modell berechnet. Die Wärmerückgewinnung wurde inzwischen ersetzt.

Es gibt aber auch plausible Abweichungen. Beispielsweise lag der Brauchwarmwasserverbrauch für das Hotel rund doppelt so hoch wie in der Ausführungsphase geplant. Die sehr hohe Auslastung des Hotels während der Berichtsperiode relativierte jedoch diesen Gap weitgehend.

«Die Analyse zeigt schonungslos auf, was nicht gut ist.»

 
Grosspeter Tower: Eingangsbereich
Grosspeter Tower

Was waren denn die grössten Herausforderungen in diesem Prozess?

In der Anfangsphase ist für den Aufbau der Datenerhebung und Trendaufzeichnung ganz klar ein erhöhter Engineering-Aufwand notwendig. Auch gilt es, aus den gewonnenen Daten die richtigen Schlüsse zu ziehen. Für uns als Bauherrschaft war sicherlich die „korrekte“ Projektorganisation mit klaren Zuweisungen der Verantwortlichkeiten eine Herausforderung. Diese muss sich im Fortgang des Betriebs wieder anpassen. Weiter war die Plausibilisierung der erhobenen Zählerdaten nötig. So musste zu Beginn auch der örtliche Einbau geprüft werden: Wird auch wirklich der treffende Energiefluss aufgezeichnet?
 

Die Nutzerinnen und Nutzer haben ja auch einen Einfluss auf die Performance eines Gebäudes: wie werden diese in die Pflicht genommen?

Wir müssen hier klarstellen: Der erste Anspruch der Betriebsoptimierung unmittelbar nach Übergabe des Gebäudes ist die Befriedigung der Komfortanforderungen der Nutzerinnen und Nutzer. Die eigentliche energetische Optimierung folgt im Nachgang. Es gibt hier gewisse Zielkonflikte, die uns immer wieder vor Herausforderungen stellen.


Sprichst du das Behaglichkeitsempfinden im Winter an bei einer Soll-Raumtemperatur von 21°C? Ich habe einmal gelesen, diese Richtlinien seien auf einen männlichen Standard ausgerichtet. Kein Wunder, dass die Frauen frieren…

Man spricht wohl offiziell von einer 70 kg-„Norm-Person“. Aber ja, nur ein kleiner Teil der Nutzerinnen und Nutzer entspricht effektiv der Norm-Person. Entsprechend individuell ist das persönliche Empfinden von Behaglichkeit. Raumlufttemperatur, Oberflächentemperatur und Beschaffenheit der Umgebungsflächen oder das Licht am Arbeitsplatz – all diese Faktoren haben einen Einfluss. Durch Empfehlungen über ideale Möblierung und frühzeitige Sensibilisierung können solche Zielkonflikte etwas entschärft werden. Wir können den Nutzerinnen und Nutzern jedoch nicht vorschreiben, wie sie Behaglichkeit empfinden sollen. Unser Anspruch ist, dass sie sich in unseren Gebäuden wohl fühlen und produktiv arbeiten können. Dafür setzen wir uns auch ein.

«Man darf sich beim Performance-Gap nicht hinter den Nutzern verstecken.»

Aber ich möchte hier betonen: Man darf sich beim Performance-Gap nicht hinter den Nutzern verstecken. Haupt-Verursacher des Performance-Gap - zumindest in einem Gebäude wie dem Grosspeter - ist die Komplexität. Die Technik an sich ist nicht „Rocket Science“. Die Herausforderung  ist die Art, wie Systeme miteinander verbunden und voneinander abhängig sind.

Ist ein digitales Modell für die Performance Gap-Analyse eine zwingende Voraussetzung?

Bei einem Neubau sind eine solide energetische Betriebsoptimierung und Performance Gap-Analyse aus unserer Sicht bereits heute nur noch mit einem entsprechenden Gebäudemodell möglich. Nur so lässt sich der effektive Energiebedarf über den gesamten Jahreszyklus realitätsnah simulieren und bereits in der Projektphase bestimmen. Basierend darauf werden auch sämtliche Systeme ausgelegt und dimensioniert.

In diesem Projekt haben wir uns bewusst entschieden, das Modell mit den entsprechenden Auswertungen nachzuführen. So bestehen weitere Möglichkeiten, das Simulationsmodell während der Betriebsphase zu nutzen. Wenn wesentliche Nutzungsänderungen auftreten, kann mit Hilfe des nachgeführten Modells sehr schnell beurteilt werden, ob der veränderte Energieverbrauch auf eine Ineffizienz im System oder die Nutzungsänderung zurückzuführen ist.

Es ist aber nicht zwangsläufig nötig, ein Modell auf diesem Niveau kontinuierlich nachzuführen. Ein gutes Gebäudeleitsystem mit einer energieflussorientierten Messtopologie und entsprechender Trendaufzeichnung liefert schon das wichtigste Werkzeug für die Betriebsoptimierung.

«Es ist nicht zwangsläufig nötig, ein Modell auf diesem Niveau kontinuierlich nachzuführen.»

Du siehst also den digitalen Zwilling noch nicht als integralen Bestandteil der Betriebsphase?

Für uns gehört der reine digitale Zwilling als Modell derzeit nicht zur Betriebsphase. In unseren Liegenschaften herrscht selten über längere Zeit „Norm-Betrieb“. Gerade in grösseren Gebäuden ändert ständig irgendwo eine Nutzung, oder es findet ein Mieterausbau statt. Es muss also wieder angepasst und optimiert werden. Folglich müsste auch das Modell des digitalen Zwillings laufend nachgeführt werden. Das kann in der derzeitigen Praxis mit den unterschiedlich agierenden Projektteams noch nicht nutzenbringend umgesetzt werden. Zum Erfüllen der Komfortansprüche unserer Mieter, aber auch zum Erreichen unserer Nachhaltigkeitsziele sind wir auf Daten und dazu passende Werkzeuge angewiesen. Dazu brauchen wir nicht in jedem Fall ein „fancy“ Modell. Wichtiger scheint mir, dass man bewusst Daten und Informationen einfordert oder erhebt und mit diesen auch etwas anfängt. Dies geschieht bei uns seit längerem aktiv und immer gezielter.

Grosspeter Tower als Case Study

Unter dem Thema "Digitaler Zwilling und Automation" hat der diesjährige "Digital Construction Event" einige Einblicke in die Performance Gap-Analyse anhand des Use Case "Grosspeter Tower" geboten (Video unseres Geschäftspartners).

Welche Herausforderungen stellen sich bei der Überführung ins reguläre Facility Management?

Während der energetischen Betriebsoptimierung unmittelbar nach Übergabe sind in unserem Fall noch die Fachingenieure aus der Ausführung involviert. Aber wir wollen ja innert nützlicher Frist in einen „Normalbetrieb“ übergehen können, bei welchem die energetische Betriebsoptimierung als Daueraufgabe zu verstehen ist. Hier ist vor allem wichtig, ein gemeinsames Verständnis zu schaffen. Es braucht also zwingend den Beschrieb eines entsprechenden Leistungsauftrags. Auch muss sich der Provider frühzeitig mit entsprechendem Know-how ausrüsten. Datenerhebung, Auswertung, Einleiten bzw. Umsetzen von Massnahmen: dies gehört zur Verantwortung für einen effizienten Betrieb und wird vom Mandatsträger erwartet.

«Der frühzeitige aktive Einbezug der Betriebsorganisation ist eine zwingende Voraussetzung»

Zusammengefasst: Was sind deine wichtigsten „Lessons learned“ aus dieser Gap-Analyse mittels digitalem Zwilling?

Ein digitales Modell und die daraus generierten Daten, unterstützen den Betrieb und ermöglichen entsprechende Analysen. So haben wir als Eigentümer wesentliche technische Faktoren im Griff. Wie vorher erwähnt ist dieser Aufwand jedoch nicht immer nötig und muss abgestimmt sein auf das jeweilige Gebäude. Unsere Devise lautet deshalb: so wenig Technik wie möglich – so viel wie nötig.

Wichtig ist trotz allem immer noch der menschliche Faktor. Einerseits ist Know-How nötig, um diese Daten auch nutzen zu können. Das beste Modell und der umfangreichste Datensatz nützen nichts, wenn man daraus die Abweichungen nicht identifizieren und keine Massnahmen ableiten kann.

Weiter muss man als Eigentümer aber auch bereit sein, die Wahrheit zu ertragen. Wenn Fehler entdeckt werden, geht es nicht um „Fingerpointing“. Es gilt, als Team zusammenzuarbeiten – gemeinsam diese Gaps angehen, die wir dank Digitalisierung besser erkennen. Der frühzeitige aktive Einbezug der Betriebsorganisation ist dazu ebenfalls eine zwingende Voraussetzung. Der Vorteil bei uns ist, dass Bau, Bewirtschaftung und teilweise auch die Hauswartung in die Organisation integriert sind. Die Kommunikationswege sind kurz und unsere offene Bürolandschaft und moderne IT-Infrastruktur ermöglichen eine ideale Zusammenarbeit – ob nun virtuell oder real.  

Also: Vorteile der Digitalisierung nutzen dank Teamwork. Besten Dank Marcel für das interessante Gespräch. 

Marcel Scheuber
Marcel Scheuber
Marcel Scheuber leitet das Kompetenzzentrum Energie- & Gebäudetechnik bei PSP Swiss Property. Sein 4-köpfiges Team arbeitet an der Schnittstelle zwischen Bau und Bewirtschaftung. Es stellt sicher, dass Anforderungen an die technische Infrastruktur in der Planung von Neubauten oder Sanierungen gebührend berücksichtigt werden, um einen effizienten und umweltfreundlichen Betrieb erlauben. Die ökonomische Betrachtung und ganzheitliche Optimierung über den gesamten Lebenszyklus einer Immobilie steht im Fokus.